Wie kommt man am schnellsten vom Norden aus in ein deutsches Weinanbaugebiet? Auch wenn Saale-Unstrut oder der Mittelrhein per Luftlinie am dichtesten an Hamburg, Kiel oder Hannover dran sind, ist es doch am Ende der ICE, der einen in unter vier Stunden nach Würzburg ins Anbaugebiet Franken führt. Wenn der Zug denn fährt, aber versuchen wir es ab jetzt mal ohne Bahnwitze …
Franken ist mit knapp über 6.100 ha Rebfläche das sechstgrößte deutsche Anbaugebiet für Qualitätswein. Ein Viertel aller Reben geht auf Silvaner zurück. Und das ist marketingmäßig ein wichtiges Pfund der Franken: Sobald einer im Frühjahr „Spargel“ schreit, eilen reflexartig zehn andere mit fränkischem Silvaner als Weinbegleitung herbei. Funktioniert jedes Jahr zuverlässig, ist auch nichts gegen einzuwenden, außer der Tatsache, dass der weitestgehend aus Wasser bestehende Spargel natürlich auch zu vielen anderen Weinen passt – auf die Beilagen und Saucen kommt es eigentlich an. Aber wir wollen uns nicht in vegetabilen Details verlieren … Hauptsache, das Kind isst Gemüse!

Der Würzburger Stein: Eine Lage wie ein Gedicht
Am Würzburger Hauptbahnhof angekommen, wird man zur Linken auch gleich schon feierlich vom Stein-Berg begrüßt. Diese legendäre VDP.Große Lage wuchtet sich entlang der Gleise in den meist stahlblauen Himmel über der Frankenmetropole hoch.
„Kein anderer Wein will mir schmecken und ich bin verdrießlich, wenn mir mein Lieblingsgetränk abgeht.“ (Goethe über den Steinwein)
Ganz ähnlich wie bei Hermann Hesse reichten auch bei mir vor vier Jahren zwei sonnige Tage in Würzburg aus, um mich von der Stadt komplett in den Bann ziehen zu lassen. Hesse hat daraufhin seine Erzählung „Narziß und Goldmund“ teilweise nach Würzburg gelegt, um dem Ort ein würdiges Denkmal zu setzen. Bei mir bleibt es ein überschaubarer Blogartikel. Ob ich dafür irgendwann auch den Literaturnobelpreis erhalte, muss an anderer Stelle entschieden werden.
Jedenfalls statte ich dem Main seitdem jährlich einen Besuch ab und nehme mir vor, stets neue Weinberge rund um Würzburg zu erkunden.

Was geht abt? Auf der Abtsleite einiges!
Den Würzburger Stein und die Innere Leiste bei der Festung Marienberg hatte ich bei meinen vergangenen Besuchen schon durchgespielt, daher führt mich mein erster Weg dieses Mal in Richtung Abtsleite in den Süden der Stadt. Beeinflusst vom Würzburger Kessel wird es hier auch im Frühjahr schnell muckelig. Hat man es die knapp 300 Meter hochgeschafft, wird man mit einem grandiosen Blick Richtung Süden auf die VDP.Erste Lage Randersackerer Teufelskeller belohnt. Schaut man nach Westen, sticht einem direkt ein klobiger Bunker ins Auge, der sich bei genauerem Hinschauen als XXXLutz-Filiale entpuppt (als Mitarbeiter würde ich mich bei einer Nuklearkatastrophe dort sehr sicher fühlen); der Ort um den Beton-Quader herum ist übrigens Heidingsfeld – für alle Fußball-Interessierten: Hier war Werner Lorant mal zwei Jahre Spielertrainer.
Aber zurück zum Fall: Im Glas setzt beispielsweise das Bürgerspital diese VDP.Erste Lage mit dem Riesling (2023) wunderbar um: Erfrischende zitrische Noten, Mineralik und eine Spur Birne – das Ganze bei 5,3 g/l Restsüße, aber alles andere als „fränkisch trocken“ (unter dem Begriff versteht man einen Restzucker-Wert von bis zu 4 g/l).
Einer, der nach Einersberg fährt
Klösterliche Stille wie in der Abtsleite gibt es in Regionalzügen dagegen nur selten. Umso schöner, dass es Noise-Cancelling-Kopfhörer gibt und die Fahrt von Würzburg nach Iphofen mit der RE10 keine halbe Stunde dauert. Am Bahnhof holt mich Winzerin Johanna Gamm vom gleichnamigen Weingut ab und fährt mich in die Weinberge von Markt Einersheim, die zum Teil von der großen Flurbereinigung der 1970er-Jahre nicht betroffen waren.

Neben fränkischen Klassikern wie Silvaner, Müller-Thurgau oder Bacchus setzt das super sympathische Weingut Gamm auch auf PiWi-Sorten wie Regent oder Johanniter. Im Glas bringt etwa der Kabinett-Johanniter vom Markt Einersberger Vogelsang riesig Spaß: Die sportliche Säure ist mit dem Restzucker bestens ausbalanciert, dazu gelbe bis teilweise exotische Primärfruchtaromen, die mich spontan auch an Scheurebe denken lassen. Noch ein Glas, bitte!
Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch die fränkische Paradedisziplin Rotling hier am Hofe verkauft und ausgeschenkt wird. Ein gemütlicher Begleiter, mit dem man es sich an einem Frühsommerabend auf einer Bank kommod einrichten kann.
Escherndorfer Lump: Erste Lage, auch Erste Liga?
Am nächsten Morgen karrt mich ein beeindruckend schlecht gelaunter Busfahrer nach Astheim an die Mainschleife. Zu Fuß schlendere ich zunächst die Landstraße entlang zum Escherndorfer Lump, einer Lage, die ob ihres Namens schon früh mein Interesse auf sich zog. Der dort installierte Aussichtspunkt auf die malerische Mainschleife lohnt sich aber erst wieder, wenn Bäume und Büsche zurechtgestutzt wurden (Wasser habe ich zu keiner Zeit gesehen).
Der Blick von der Steillage hinunter auf Escherndorf entschädigt aber für alle in Kauf genommenen Unbilden (Büsche und Busfahrer).


Die Bocksbeutelstraße ist so etwas wie die Champs-Élysées Escherndorfs. Hier reihen sich die wichtigsten Adressen wie Perlen aneinander. Ich bleibe an der Hausnummer 15 beim VDP Weingut von Rainer Sauer kleben.
Der Silvaner – Escherndorfer Lump, VDP.Erste Lage, trocken aus dem Jahr 2023 – ist eine Granate: rauchige Mineralik, speziell Feuerstein, Kräuterwürze und dazu ein Schuss Limette und Zitrone. Bei 1 g/l Restzucker ist dieser Wein auch typisch „fränkisch trocken“ und genau das Richtige an einem knallheißen Mai-Tag.
Der Riesling aus derselben Lage, aber ein Jahr älter, haut in eine ähnliche Kerbe, ist aber nicht ganz so kantig und angriffslustig.


Nach Nordheim auf die Weininsel
Am Escherndorfer Ufer fährt mich die seilgeführte und mit Wimpeln und Fähnchen bestückte „Mainfähre“ rüber nach Nordheim auf die Weininsel. Die Überfahrt dauert gefühlte 40 Sekunden und ist durchgehend ruhig, was den Kapitän aber nicht davon abhält, fotografierende Touristen auf der anderen Flussseite lautstark zu maßregeln, die „Sicherheitslinie“ am Anleger doch bitte nicht zu überschreiten – hier herrscht also noch Recht und Ordnung.
Hat man das pittoreske Nordheim durchlaufen (die Dorfbäckerei Weinhöfle vertreibt einen vorzüglichen Flammkuchen), öffnen sich die Tore zum Paradies: Der freie Blick auf den 288 Meter hohen Kreuzberg, umrahmt von den VDP.Ersten Lagen Nordheimer Kreuzberg (Nordlage!) und Nordheimer Vögelein ist hinreißend. Oben angekommen, trifft man auf der Terroir f Aussichtsplattform auf die Weinheilige „Frankonia“ (oder wie ich zusätzlich auch auf einen sternhagelvollen Junggesellenabschied … der Busfahrer wäre mir, offen gestanden, lieber gewesen).

Hinunter gehts auf der anderen Seite gute drei Kilometer quer durch den Sommeracher Katzenkopf ins gleichnamige Dorf (Sommerach, nicht Katzenkopf).
Die hiesige Winzergenossenschaft kobert einen am Ortseingang direkt auf den sommerlich (hier ist der Name Programm) hergerichteten Hof. Im Glas habe ich hier den Sommeracher Katzenkopf, Silvaner, trocken: Und wieder ist er präsent, dieser intensive Kräutergarten, der sich schlagartig die Nase hochschiebt. Dazu gesellt sich eine leichte Zitrusnote bei straffem Säuregerüst.

Voll karacho nach Volkach
Den Busfahrplan im Hinterkopf geht es hurtigen Schenkels nordöstlich in Richtung Volkach, immer schön am Mainkanal entlang. Wer hier mit dem Auto fährt, begeht einen unverzeihlichen Frevel an der Natur, denke ich mir so, wie ich als Stadtmensch versonnen die sorgsam aufgezogenen Obstbäume bestaune.
Apropos: In Volkach selbst steht das „Haus der Quitte“. Neben Seifen, Marmeladen und Nippes, den man vielleicht nicht unbedingt kaufen muss, wird allerdings auch ein Quitten-Secco feilgeboten, der furchtbar gut und erfrischend schmeckt.
Da Quitte ein typisches Referenz-Aroma für Weinbeschreibungen ist, sollte der geneigte Weinfreund nicht schnurstracks an diesem spannenden Haus vorbeimarschieren.
Jetzt aber wieder zum seriösen Teil: Ein Besuch beim Weingut Zur Schwane gehört natürlich zum Pflichtprogramm. Gleich mal das Große Gewächs „Am Lumpen 1655“, Silvaner, 2022, bestellt: zunächst recht verschlossen in der Nase, dann entwickelt sich aber eine herbe Kräuternote und dazu eine deutlich gegenwärtige Säure. Es mag die restsüße Quitte zuvor gewesen sein oder meine Nase musste den knapp 20 gewanderten Kilometern Tribut zahlen, leider legt mein sensorischer Kompass am vermeintlichen Höhepunkt eine Pause ein. Passiert.


Der Zufall wollte es aber, dass ich Schwane-Inhaber Ralph Düker zwei Tage später in Hamburgs Frankenwein-Institution „Der Bocksbeutel“ treffen und dort seinen Blanc de Noir probieren durfte: Ein dezenter Kupferton funkelt hübsch im Glas, im Mund entfaltet sich augenblicklich ein animierender Säurezug, während am Gaumen ein feines, nobles Erdbeer-Aroma geduldig auf den Nachhall wartet.
Kreislauf des Lebens (und Busfahrplans)
Der Weinort Volkach hatte mal eine Bahnanbindung, die im Volksmund – aus Gründen – „Säuferbähnle“ genannt wurde. 1968 war aber Schluss mit den lustigen Bahnfahrten: Die Deutsche Bundesbahn hat die Strecke (Achtung, Wortwitz!) trockengelegt. Wie der Bayerische Rundfunk berichtet, soll die Zugstrecke aber in ungewisser Zukunft reaktiviert werden.
Dies ist jedenfalls der Grund, weshalb ich an einem Sonnabend schon um 16.45 Uhr die letzte direkte Reiseverbindung zurück nach Würzburg nehme: die Linie 305. Beim Öffnen der Tür blicke ich in ein bekanntes Gesicht, der unfreundliche Busfahrer bittet um Einsicht in mein Deutschland-Ticket. Vielleicht waren es die wunderbaren Lagen und Weine, die ich bestaunen durfte oder doch der Quitten-Secco, aber für einen kurzen Wimpernschlag hoben sich die Mundwinkel des Busfahrers zu einem flüchtigen Lächeln.